Globalisierung ist keine Erfolgsstory für alle
Europa muss handeln
von Hubertus Godeysen
(1) Titel Außenhandel-Jahrbuch 2018
Den massiven Veränderungen, die wir durch die Globalisierung erleben, stellen sich viele außenhandelsorientierte Unternehmen aktiv und zukunftsorientiert. Besonders die Industrie gehört hier zu den Vorreitern, denn ihre Zulieferer kommen nur noch selten alleine aus dem direkten regionalen oder nationalen Umfeld. Und wer sich beispielsweise in der Autoindustrie umsieht, ist jedes Mal aufs Neue überrascht, wie wenig „deutsch“, „französisch“ oder „italienisch“ ein Auto ist, das durch sein „Made in …“ suggeriert, es sei ein nationales Produkt. Ebenso bestehen fast alle in Österreich oder Deutschland hergestellten Maschinen aus Teilen, die oft weite Weltreisen hinter sich haben, ehe sie in der Endmontage zusammenfinden.
Lange galt die Erkenntnis: „Handel vergrößert den Wohlstand“. Und dies bezog sich, bei immer internationaler werdenden Handelsbeziehungen, nicht nur auf die Unternehmen mit ihren Mitarbeitern, sondern auch auf die daran beteiligten Länder. Doch mit zunehmender Globalisierung gilt diese Erfahrung nur noch bedingt. Denn je freier die Märkte werden, umso größer wird die weltweite Konkurrenz und die Forderung nach niedrigen Lohnstückkosten. Dies führt häufig zur Verlagerung von Arbeitsplätzen in Länder mit geringsten Löhnen, Sozialstandards und Umweltbedingungen.
Zusätzlicher Druck kommt von den Finanzmärkten, die immer rücksichtsloser agieren, seit 1973 das Bretton Woods-System mit seinen festen Wechselkursen in überwiegend national organisierten Märkten aufgegeben wurde. Als dann später auch noch die Kapitalverkehrskontrollen fielen, Devisen- und Wertpapiermärkte frei agieren konnten und die internationalen Kapitalströme durch Spekulanten hochgepuscht wurden, verstärkten sich die negativen Auswirkungen der globalisierten Finanzmärkte auf die Wirtschaft.
Dabei bezieht sich die Globalisierung längst nicht mehr nur auf den Handel. Auch Werte, Gesellschaftssysteme, kulturelle Erfahrungen und Lebensstile werden weltweit exportiert. Und durch die Wirtschaftskraft der USA und Europas verbreiten sich über die Weltsprache Englisch immer stärker Ansichten und Wertvorstellungen westlicher Demokratien. Treiber sind hierbei nicht nur Film und Fernsehen, sondern vorrangig die neuen elektronischen Medien. Dies führt dann in anderen Regionen und Kulturen nicht selten zu Unterlegenheitsgefühlen und dem Eindruck von „westlicher Dominanz“. Fragt man nach den Gründen für Hass und Gewalt, die dem Westen aus dem Islamismus entgegenschlagen, so liegt eine Erklärung auch in dem Ohnmachtsgefühl, vom freieren demokratischen Gesellschaftssystem mit seiner erfolgreicheren Wirtschaft dominiert, mitunter sogar gedemütigt zu werden.
Doch in Asien nimmt die einstige Vormachtstellung des Westens bereits rapide ab. Hier zeigt sich der globale Einfluss des immer mächtiger werdenden Chinas recht ungeschminkt, während er in Afrika noch als willkommene Infrastrukturhilfe wahrgenommen wird. Es dürfte wohl nicht mehr allzu lange dauern, dann wird die jetzt noch zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt die USA überholen. Dagegen helfen weder Verbalattacken eines US-Präsidenten, noch dessen Bemühungen sein Land mit Protektionismus abzuschotten.
Globales wirtschaften braucht Umweltstandards
Obwohl die Zahl der Globalisierungsgegner weiter zunimmt und sich besonders auch aus dem Lager der Umweltschützer speist, ist es falsch, die Globalisierung zum vorrangigen Sündenbock für die Erderwärmung zu erklären. Im Gegenteil: Globales wirtschaften benötigt immer stärker allgemeingültige Umweltstandards, die als weltweit akzeptierte Richtschur gelten. So wäre das Pariser Klimaabkommen ohne die Globalisierung sicherlich nicht zustande gekommen, denn allein die globale Kommunikation hat das Bewusstsein für die Dramatik der Umweltschäden weltweit aufgezeigt und Betroffenheit erzeugt.
Auch wenn es Rückschläge gibt, die höheren Umweltstandards in den Industrieländern werden zunehmend auch zur Zielvorgabe für Schwellen- und Entwicklungsländer. Ein stetig wachsender Wettbewerb um die Einhaltung von Umweltstandards hat zwischen den Volkswirtschaften einzelner Nationalstaaten bereits eingesetzt. Und Konzerne merken immer deutlicher, dass auch Verbraucher global agieren und sie sich ein umweltschädliches Image nicht mehr leisten können. Dies zeigen auch die weltweit negativen Reaktionen auf die zweifelhafte Ankündigung des US-Präsidenten, den Pariser Vertrag aufkündigen zu wollen. Donald Trumps ausschließlich auf billige innenpolitische Effekthascherei abzielende vermeintliche Absetzbewegung hat die USA nicht nur in die Schmuddelecke gestellt, sondern weltweit isoliert, während sich China und Russland als Kämpfer für einen globalen Klimaschutz feiern lassen konnten.
Dennoch ist die Globalisierung keine Erfolgsstory für alle. Nicht erst die Vorgänge um TTIP und CETA haben deutlich gemacht, dass es in weiten Teilen der Weltbevölkerung ein wachsendes Unbehagen über die Auswirkungen der Globalisierung gibt, das in europäischen Demokratien besonders ausgeprägt ist. Und Kritik ist auch berechtigt. So wird das Ungleichgewicht zwischen hoher und geringer beruflicher Qualifizierung zunehmen und die Schere zwischen reichen und armen Ländern noch extremer auseinandergehen.
Trotz der eigenen Probleme ist es für EU-Bürger leicht, in akademischen Zirkeln und in Talkshows über die negativen Auswirkungen der Globalisierung zu philosophieren, denn sie zählen zu den eindeutigen Gewinnern. Dabei sind es nicht nur die großen Konzerne, deren Bilanzen kräftig steigen. Auch viele Mittelständler profitieren vom globalen Handel, weil sie rechtzeitig ihre Unternehmen effizient gemacht haben und mit bestens ausgebildeten Mitarbeitern am Markt sind. Erfolgreich stellen sie sich einem weltweiten Wettbewerb und blicken mit Zuversicht in die Zukunft. Sie verfügen über anspruchsvolle Produkte, die durch hochmotivierte Ingenieure entwickelt, durch gut ausgebildete Fachkräfte hergestellt und durch findige PR-Experten weltweit vertrieben werden.
Globalisierungsverlierer Afrika
Schaut man dagegen auf Afrika, erlebt man die Verlierer der Globalisierung. Oft sind die wenigen traditionell hergestellten heimischen Produkte auch deshalb nicht mehr konkurrenzfähig, weil ihre Länder mit Billigwaren aus Europa, Asien oder den USA überschwemmt werden. Immer mehr funktionierende afrikanische Märkte werden zerstört, weil Händler dort europäische Überproduktionen, aus unseren Altkleidersammlungen stammende Bekleidung oder sogar Schlachtabfälle zu Preisen anbieten, gegen die heimische Produzenten machtlos sind. Hinzu kommen korrupte Politiker, die Rechte, Land, Bodenschätze oder die Zukunftsperspektiven ganzer Landstriche an Weltkonzerne, China, die USA oder die EU verscherbeln.
Hierbei sei beispielhaft an den Kauf afrikanischer Fischereirechte durch die EU erinnert. Weil die Nordsee, der englische Kanal, das nördliche Mittelmeer und die atlantischen Küstenregionen in Europa fast leergefischt sind, können jetzt vor allem spanische Trawler und Fabrikschiffe die Fischbestände an der afrikanischen Nordwestküste, im Golf von Guinea oder im südlichen Mittelmeer rücksichtlos ausbeuten. Und während die EU-Zahlungen auf fragwürdigen afrikanischen Regierungskonten landeten oder gleich in die Taschen von Ministern flossen, zerstörte dieser fragwürdige Deal die Existenzen von tausenden kleinen afrikanischen Küstenfischern nachhaltig.
Und sollten wir uns wieder aufregen, weil im Golf von Guinea oder am Horn von Afrika Handelsschiffe von Piraten geentert werden, damit ihre mafiösen Auftraggeber Millionensummen von europäischen Reedereien erpressen können, sei daran erinnert, dass dies fast immer ehemalige Fischer sind. Ihre legalen Beschäftigungen wurden vernichtet, damit in den Kühltheken unserer Supermärkte tiefgefrorener Fisch billig angeboten werden kann. Es sind übrigens auch viele ehemalige Fischerboote, die Schlepper zum Schrottpreis aufkaufen, um damit afrikanische Flüchtlinge auf ihre gefahrvolle Seereise nach Europa zu schicken.
Eigentlich ist Afrika ein sehr reicher Kontinent mit enormen Bodenschätzen. Dazu zählen auch die Kupfer- und Kobaltvorkommen der Demokratischen Republik Kongo. Auf dem Weltmarkt werden sie zu Höchstpreisen gehandelt, weil die Nachfrage nach Batterien und Akkus für Handys und Elektroautos rasant steigt. Insgesamt verfügt die DR Kongo über Bodenschätze im Wert von 24 Billionen (24.000.000.000.000) Dollar und seiner Bevölkerung müsste es richtig gut gehen. Doch zwei Drittel der Kongolesen leben in bitterster Armut und müssen mit 1,90 Dollar am Tag auskommen.
Vom Reichtum profitieren andere: Globale Konzerne, Kongos Präsident Joseph Kabila und weitere Regierungsmitglieder. Zu den größten Gewinnern zählt jedoch Glencore, ein Gigant unter den Rohstoffhändlern mit über 150 000 Mitarbeitern und einem Jahresumsatz von 153 Milliarden (153 000 000 000) Dollar. Wie im November 2017 durch die „Paradise Papers“ bekannt wurde, schloss Glencore alleine in den Jahren 2010 bis 2012 mit der staatlichen kongolesischen Katanga-Mine fünf Verträge ab. Dabei gelang es dem mit Präsident Kabila befreundeten israelischen Vermittler Dan Gertler, den Kaufpreis für die Nutzungsrechte um 1,36 Milliarden Dollar zu drücken. Diese Summe entspricht in der Demokratischen Republik Kongo dem doppelten Jahresbudget für Bildung und Gesundheit zusammen. Und dies in einem Land, bei dem 17% der Babys sterben, bevor sie 5 Jahre alt sind.
Auch beim Preis für den Vertragsabschluss war Gertler erfolgreich. Von den geforderten 585 Millionen Dollar verzichtete der Kongo auf 445 Millionen Dollar, sodass Glencore nur 140 Millionen Dollar zahlte. Über die bei diesem Deal geflossenen Schmiergelder ist nichts bekannt, aber US-Ermittler fanden heraus, dass Gertler in den Jahren 2005 bis 2015 Schmiergelder weit über 100 Millionen Dollar an kongolesischen Regierungsvertretern gezahlt hat. Und der Kongo ist nur ein Beispiel dafür, wie die afrikanische Bevölkerung um den Nutzen ihrer Bodenschätze und um ihren Wohlstand massivst betrogen wird.
Allein 2016 „verschwanden“ im afrikanischen Rohstoffsektor 69 Milliarden Dollar auf unlautere Weise. Gelder, die der notleidenden Bevölkerung fehlen, weil sie dringend für Armutsbekämpfung und Entwicklung benötigt würden. Die an Bodenschätzen reichen Länder Afrikas brauchen keine Entwicklungshilfe, sondern Bekämpfung der Korruption und faire Weltmarktpreise. Und die Afrika ausbeutenden globalen Konzerne müssten endlich einmal Steuern zahlen, statt sie auf Kosten der armen Länder in überseeischen Steuerparadiesen zu bunkern.
Europa muss Afrikas Partner werden
Die EU in Brüssel, unsere nationalen Regierungen und wir Europäer müssen lernen, dass aus Afrika nicht nur Rohstoffe kommen, sondern auch Menschen. Und dass sie deshalb zu uns drängen, weil die Globalisierung ihnen die wirtschaftliche Existenz nimmt.
Die Globalisierung verursacht auch viel Leid und Elend, das wir nicht sehen wollten, bevor die Flüchtlinge die Festung Europa stürmten. Es mag zwar der innenpolitischen Debatte helfen, diese Flüchtlingsströme in gute Kriegsflüchtlinge aus dem Mittleren Osten aufzuteilen und in böse afrikanische Wirtschaftsflüchtlinge, die bei uns „nur“ ein besseres Leben führen wollen. Doch mit populistischen Sprüchen, die Politiker an die heimische Sympathisantenszene richten, halten wir die Flüchtlinge nicht auf. Übrigens auch nicht durch martialische Aufmärsche von Grenzpolizisten oder mit Stacheldrahtverhauen.
Wir, die europäischen Bürger, müssen endlich begreifen, dass mit der Globalisierung der riesige afrikanische Kontinent ganz dicht an unsere Grenzen gerückt ist. Die Menschen Afrikas sind unsere Nachbarn geworden und die Zukunft Europas entscheidet sich maßgeblich auch in Afrika. Deshalb müssen wir, nach Jahrzehnten der kolonialen Ausbeutung, endlich den Afrikanern auf Augenhöhe begegnen, ihre ehrlichen Partner werden und durch seriöse langfristige Investitionen dafür sorgen, dass der afrikanische Reichtum in Afrika bleibt und direkt bei der Bevölkerung ankommt.
Doch davon sind wir noch meilenweit entfernt. Selbst ein Land wie die Schweiz unterstützt die Ausbeutung Afrikas. Dank der „Paradise Papers“ wissen wir, dass in unserem Nachbarland über 550 global agierende Rohstoffhändler ihren Firmensitz haben. Dafür belohnt die Schweiz sie mit geringen Steuersätzen, Verschwiegenheit, Schutz vor internationaler Strafverfolgung und nimmt sie sogar vom Geldwäschegesetz aus. Und so verwundert es nicht, dass auch der Branchenriese Glencore seinen Konzernsitz im Kanton Zürich hat.
Gleich nebenan, in der Gemeinde Rüschlikon, wohnt Ivan Glasenberg, der Glencore-Chef. Und um die gefälligen Eidgenossen nicht zu erzürnen, kommt der Multimilliardär dort auch brav seiner privaten Steuerpflicht nach. Doch Rüschlikon hat ein Problem. Es wohnen dort zu viele Milliardäre und die Gemeinde ist so reich, dass sie nicht mehr weiß, was sie mit den vielen Steuereinnahmen machen soll. Als Glasenberg 2011 dann auch noch seine Einkommenssteuer in Höhe von 360 Millionen Franken überwies, meldete sich bei dem für die Gemeindefinanzen verantwortlichen Peter Cadisch sein Gewissen. Er recherchierte und fand heraus, dass Glasenbergs unermesslicher Reichtum auf der Ausbeutung Afrikas beruht.
Und so entwickelte Cadisch die Idee, den im Abbaugebiete der kongolesischen Katanga-Mine unter ärmsten Verhältnissen lebenden Menschen einen Teil der Glasenberg-Steuern zurückzugeben. Er initiierte in der Gemeinde eine Bürgerbefragung, bat um Zustimmung und erntete eine krachende Niederlage. Mit überwältigender Mehrheit stimmten die Bewohner des reichen Rütlikon gegen die Unterstützung der Afrikaner und Glasenbergs Millionen verblieben auf den Gemeindekonten.
Wir sind Nachbarn
Das Beispiel macht deutlich, dass Europa noch nicht wirklich bereit ist, das Verhalten gegenüber Afrika zu ändern. Lieber werden im Rahmen von nationaler Entwicklungshilfe begrenzte Projekte gefördert, als Afrika wirkungsvoll mit einem umfassenden und nachhaltigen Marshall-Plan zur Selbsthilfe zu drängen. Tatenlos sehen wir zu, wenn in Ländern, die zu den reichsten in Afrika zählen, die Menschen in Armut leben und von Bildung und Gesundheitswesen abgeschnitten sind. Bis 2050 wird sich die afrikanische Bevölkerung auf 2,5 Milliarden verdoppeln. Verstärkt durch Klimawandel, Bürgerkriege und Terror muss Europa mit einem chaotischen Exodus rechnen, wenn wir nicht endlich Verantwortung übernehmen.
Die riesigen Gewinne mit Bodenschätzen wie Diamanten, Öl, Erze, Kupfer, Kobalt, Erden und sogar Wasser dürfen nicht mehr einige globale Konzerne rücksichtslos einstreichen. Die europäischen Regierungen und Wirtschaftskammern müssen die bereits bestehenden Kontakte intensiv ausbauen und zusammen mit anderen Industrieländern neue Anreize schaffen, um Investitionen in Afrika zu ermöglichen. Afrika braucht keine Monokulturen für Mais oder Rosen, sondern eine kleinteilige Landwirtschaft, einen Ausbau der Infrastruktur und den Aufbau kleiner und mittlerer Betriebe und Genossenschaften. Und die EU muss endlich ihre selbstschützenden Zölle und Steuern für afrikanische Produkte abbauen, wirtschaftliche Sonderzonen einrichten und eine ehrliche gleichberechtigte Handelspolitik mit Afrika starten.
Nur wenn die europäischen Staaten und die EU ihre geballte Kraft einsetzen, um dem Nachbarn Afrika auf seinem langen Weg der Selbstfindung, des Aufbaus sicherer staatlicher Strukturen, der Schaffung erfolgreicher Wirtschaftsräume ohne Korruption nachhaltig zu unterstützen, werden Afrikaner nicht mehr in Massen in die EU drängen. Und Europa hat einen großen Vorteil, den weder die Amerikaner, noch die Russen oder die Chinesen haben: Wir sind Nachbarn! Wir sind darauf angewiesen, dass in Afrika Stabilität und Frieden einkehren.
Doch Europa muss schnell handeln, denn neben der Globalisierung kommt mit der Digitalisierung eine der radikalsten Umbrüche der Arbeitswelt und der privaten Lebensgestaltung auf die Bürger dieser Welt zu.
Der Text erschien im Österreichischen Außenhandel-Jahrbuch 2018 am 1. Dezember 2017
Bildnachweis:
(1) Kitzler Verlag, Wien 2017