Europas bekanntestes Wettrennen wird 175 Jahre alt
Seit 1840 ruft der Swinegel „Ick bün al dor!“
von Hubertus Godeysen
(1) Der vornehme Hase und Chrischan Swinegel
Die Geschichte, die „lögenhaft to vertellen is“, obwohl sie wahr sein muss, weil man sie ja sonst nicht erzählen kann, wurde vor 175 Jahren, am 28. April 1840, erstmals veröffentlicht. Es handelt sich um das weltweit bekannte norddeutsche Märchen: „Dat Wettloopen twischen den Swinegel un den Hasen“.
Aufgeschrieben hat das berühmte Wettrennen zwischen dem hochnäsigen Hasen und dem krummbeinigen Igel der von 1837 bis 1867 in Hannover lebende Dr. Wilhelm Schröder. In seinem „Hannoverschen Volksblatt“, das er ab 1840 als „Vaterländische Mitteilungen zur Unterhaltung und Belehrung für Leser aller Stände“ herausgab, konnten die Abonnenten aus dem Königreich Hannover das plattdeutsche Volksmärchen in der Nummer 51 lesen.
Ob Schröder damals unter Zeitdruck stand oder einfach vergaß, den Schwank als sein geistiges Eigentum zu kennzeichnen, wissen wir nicht. Als er merkte, wie Plagiatoren sein Werk unter ihrem Namen erfolgreich veröffentlichten, war es längst zu spät. 1845 gab sich Theodor von Kobbe als Autor aus und ließ den „Swinegel“ im „Oldenburger Volksboten“ abdrucken. 1850 trug Gustav Süs erheblich zur Verbreitung bei, als der renommierte Zeichner aus dem prominenten Düsseldorfer Künstlerkreis den Wettlauf illustrierte und ohne Autorenhinweis publizierte. 1853 nahm Ludwig Bechstein Hase und Igel in sein „Deutsches Märchenbuch“ auf, während im gleichen Jahr Hoffmann und Campe in Hamburg „De Swienegel als Wettrenner“ mit Zeichnungen von Johann Peter Lyser aus Altona herausbrachte, die wohl zu den beliebtesten Abbildungen zählen. 1857 folgten die Gebrüder Grimm und nannten den Kasseler Professor Firnhaber als Autor.
(2) „Ick bün al dor!“
Die Geschichte des weltberühmten Wettrennens beginnt an einem schönen Sonntagmorgen auf der Heide bei Buxtehude. Chrischan Swinegel verlässt seine Behausung, um auf einem nahen Acker Steckrüben zu besehen, als er einen Hasen trifft, den er freundlich grüßt. Doch der vornehme und hochfahrende Hase erwidert seinen Gruß nicht und fragt stattdessen höhnisch, warum er denn schon so früh herumlaufe. „Ich gehe spazieren!“ sagt der Igel, worauf der Hase herablassend lacht und sich über die kurzen schiefen Beine des Igels lustig macht. Als armer Kleinhäusler ist Christian Spott gewohnt, doch auf seine Beine lässt er nichts kommen, weil sie eben von Natur aus schief sind. Erbost bietet er dem arroganten Hasen ein Wettrennen an, vereinbart als Preis einen goldenen Louisdor sowie eine Flasche Branntwein und verschiebt den Start um eine halbe Stunde. Siegessicher nimmt der Hase die Wette an.
Schnell holt der Igel seine Frau, setzt sie an das Ende einer Ackerfurche und weist sie ein. Als nun der Wettlauf beginnt, rennt der Hase in seiner Furche sofort los, während Chrischan nur drei Schritte macht und dann sitzen bleibt. In Windeseile erreicht der Hase das Furchenende und erschreckt, völlig überrascht vernimmt er ein „Ick bün al dor!“ von Frau Swinegel. Verdutzt rennt der Hase zurück und hört auch dort, dass der Igel schon da ist. Dreiundsiebzigmal rennt der Hase hin und her, dann bricht er tot zusammen.
(3) Die Siegesfeier bei Familie Swinegel
Und während Chrischan Swinegel sich über den gewonnenen Branntwein hermacht, endet die Geschichte mit zwei Lebensweisheiten: Erstens soll man sich nicht über einen geringen Mann lustig machen, auch wenn man sich noch so vornehm vorkommt. Und zweitens ist es ratsam, dass Mann und Frau aus dem gleichen Stand kommen. Wer also ein Swinegel ist, sollte auch einen Swinegel heiraten.
Schröders „Wettloopen“ wurde zuerst ins Hochdeutsche übersetzt, dann ins Englische. Schnell folgten die skandinavischen Sprachen sowie russisch und französisch. Es dauerte nicht lange bis Hase und Igel in allen Weltsprachen um die Wette liefen und das kleine Städtchen Buxtehude immer bekannter wurde. Viele Autoren und Verleger verdienten mit der Verbreitung des „Swinegels“ gutes Geld, nur einer nicht: Wilhelm Schröder!
Dabei hätte er Geld dringend benötigt, denn nach dem deutsch-deutschen Krieg, den das Königreich Hannover 1866 an der Seite Österreichs gegen Preußen verlor, musste Schröder sein Volksblatt aufgeben. Er hatte sich fortschrittlich zu einem geeinten Deutschland bekannt und für das siegreiche Preußen ausgesprochen. Doch diese Parteinahme verziehen ihm die hannoverschen Leser nicht und sein Blatt wurde verboten. Schröder machte Bankrott, musste sein Haus mit der geliebten Bibliothek verkaufen und nach 30 Jahren Hannover verlassen. 1867 zog er mit seiner Familie nach Berlin und später nach Leipzig, wo er 1878 mittellos starb. Seine späteren politischen Swinegel-Satiren blieben ebenso erfolglos wie sein Buch „De plattdütsche Bismarck“.
Doch Wilhelm Schröder wird auch in Buxtehude verkannt, obwohl ihm das jetzt wieder zur Hansestadt erhobene Städtchen eigentlich zu großem Dank verpflichtet ist, denn er war es, der den berühmten Wettlauf „op de lütje Haide bi Buxtehude“ verlegte. Dabei sollen sich Hase und Igel das ungleiche Rennen gar nicht bei Buxtehude geliefert haben, sondern bei Bexhövede, einem Dorf 10 km südöstlich von Bremerhaven, das früher Buxthoeveden hieß. Dort hatte Schröders Großvater gelebt, der Vogt Wilhelm Krone, den er während der Ferien oft besuchte. 1820 hörte er erstmalig in der Dorfschänke die Geschichte, die sein Leben prägen sollte. Zuerst erzählte sie ein Jäger, dann eine Frau und später Pastor Helmke. Allen drei Schilderungen war gemein, dass sie sogar den genauen Ort des Wettlaufs kannten, nämlich den von einer dichten Schlehenhecke umgebenen Acker „Wohlers Kamp“ bei Bexhövede.
(4) Wilhelm Schröder
Zehn Jahre später reüssierte Schröder mit seiner Geschichte vom Hasen und Igel als Student im Leipziger Corps Neoborussia und als Referendar so erfolgreich, dass er bereits im ersten Jahrgang seines Volksblattes das „Ick bün al dor!“ zu Papier brachte. Und so gelang ihm mit der Figur des kurz- und schiefbeinigen Chrischan Swinegel eine der volkstümlichsten Märchenfiguren der deutschen Literatur.
Text und Bilder erschienen im Kössenbitter Hamburg am 14. August 2015
Bildnachweis:
(1) Illustration Johann Peter Lyser, Altona
(2) Illustration Johann Peter Lyser, Altona
(3) Illustration Johann Peter Lyser, Altona
(4) Archiv Hubertus Godeysen